Zeichnung als Kulturtechnik
Jubiläumsausstellung im Oldenburger Horst Janssen Museum
Zu seinem 20jährigen Jubiläum zeigt das Horst-Janssen-Museum eine besondere Schau, die über die Grenzen der bildenden Kunst weit hinausgeht. Alle Gattungen der Zeichnung werden exemplarisch vorgestellt. „Damit kommen auch andere Akteure wie Landschaftsplaner, Kostümbildner, Urban Sketcher, Gerichtszeichner, Illustratoren, Kinder und eine Plattform wie Pinterest ins Museum“, so die Idee des Kuratorenteams. Auf zwei Ebenen werden rund 180 Exponate gezeigt.
5. Oktober 2020
„Die linke Hand flach aufliegend, die rechte zeichnend“, eine Bleistiftstudie von Paula Modersohn-Becker, kann als programmatisch für die Ausstellung angesehen werden. Es ist Paulas eigene Hand, die hier gleichzeitig denkt und handelt. In diesem Sinn werden eigentlich alle Ideen im Aufzeichnen erst sichtbar gemacht. Wer beim Patentamt eine Erfindung anmelden will, sollte seinem Antrag eine Zeichnung beilegen. So machte das 1868 auch der Dachdecker Hahn in Heilbronn, dessen „Patent für eine neue Art von Maus- und Rattenfallen“ zu sehen ist. Die Nagerplage auf den Dachböden des 19. Jahrhunderts werden ihn dazu inspiriert haben. Dass auch auch ein schöner Garten zunächst auf dem Papier entsteht, zeigen originale Pflanzpläne von Joachim Winkler. Wie akribisch der Landschaftsarchitekt den 23 ha großen Zitadellenpark plante, lässt sich seinen Federzeichnungen ablesen. Darauf hat er genau festgelegt, wo die einzelnen Gehölze, Stauden und Blumensorten ihren Platz haben. Illustrationen aus den Bereichen Botanik, Biologie und Anatomie verdeutlichen, dass auch die Wissenschaft nicht ohne Zeichnung auskommt. Gerade in der Anatomie sind Fotos wenig aufschlussreich, während eine gezielte farbige Hervorhebung die Körperteile und Funktionen sehr viel anschaulicher macht. Bevor der Chirurg an den OP-Tisch herantreten darf, ist das anatomische Zeichnen ein fester Bestandteil des Medizinstudiums.
Weniger zweckgebunden ist Urban Sketching, eine globale Kunstbewegung, deren Teilnehmer urbane Situationen skizzieren und oftmals auch kolorieren. Zentraler Vorsatz dabei ist der Verzicht auf die Fotografie oder das Nacharbeiten aus der Erinnerung. Es gilt, die Eindrücke direkt vor Ort festzuhalten. Beispiele dieser Gegenbewegung zum schnellen Handy-Foto stammen von Jens Hübner, der die Methode auf seiner zweijährigen Weltumrundung mit dem Fahrrad genutzt hat.
Gegliedert ist die Ausstellung in mehrere Themenbereiche. Piktogramme oder eine Bauanleitung von Ikea zeigen, dass Zeichnung auch als universelles Kommunikationsmittel dient, Karikaturen und Pressezeichnungen als messerscharfe politische Stellungnahme wirken und Zeichnung generell Phantasien abbilden können, die es sonst nur im Kopf gibt. Zugleich naiv wie bizarr erschienen die Buntstiftbilder von Friedrich Schröder-Sonnenstern (1892–1982). Der Autodidakt, der international als einer der wichtigsten Vertreter der Outsider-Art gilt, verbrachte einen großen Teil seines Lebens in psychiatrischen Kliniken, bis er im Alter von etwa 50 Jahren zu zeichnen begann und 1959 an der Pariser „Exposition Internationale du Surrealisme“ teilnahm. Seine Bildwelt wurde vom Publikum einerseits als Provokation aufgefasst, andererseits bejubelt.
Für die kleinen Ausstellungsbesucher sind neben den bekannten „Wimmelbildern“ von Rotraud Susanne Berner auch die Originalvorlagen des Kinderbuchs „Manno!“ von Anke Kuhl zu entdecken. Für ihre lebendigen Episoden erhielt Anke Kuhl, die darin ihre eigenen Kindheitserinnerungen aufleben lässt, 2019 den Comicbuchpreis der Berthold Leibinger Stiftung.
Ein Jahr lang hat das fünfköpfige Kuratorenteam – Jutta Moster-Hoos, Sabine Siebel, Hedwig Vavra-Sirum, Lemya Demirkapi und Rene Klattenberg – an den Vorbereitungen gearbeitet. Ihre These ist, dass eine Welt ohne Schreib- und Zeichenstifte eigentlich gar nicht denkbar ist, ganz egal, ob auf dem Papier oder dem Tablet.
Bild Übersichtsseite: Sonja Llebe Laengsschnitt durch den Augenbereich, Foto: Urban Fischer in Elsevier Verlag München